Der elektrische Weihnachtsbaum
oder: Wie der Weihnachtsbaum in die Vorgärten kam
Eine nicht ganz ernst zu nehmende Geschichte

Der Weihnachtsmann ging durch den Wald. Er war ärgerlich. Er hatte nämlich nicht mehr die rechte Freude an seiner Tätigkeit. Es war alle Jahre dasselbe. Es war kein Schwung in der Sache. Spielzeug haufenweise und Essen ohne Ende, das war auf die Dauer nichts. Die Kinder freuten sich wohl darüber und die Erwachsenen auch, aber jubeln sollten sie und singen. So wollte er es, das taten sie aber nur selten.
Den ganzen Dezembermonat hatte der Weihnachtsmann schon darüber nachgegrübelt, was er wohl Neues erfinden könne, um einmal wieder eine rechte Weihnachtsfreude in die Welt zu bringen, eine Weihnachtsfreude, die alle sehen konnten. Teuer durfte es nicht sein, denn auch er musste sparen.
So stapfte er denn schlechtgelaut durch den verschneiten Wald. Da klingelte sein Handy. Oh je, wo stecke es bloß? Ja, natürlich, ganz unten im Sack. Als er das kleine Ding endlich in der Hand hatte, war die Verbindung schon unterbrochen. Ah, das war bestimmt das Christkind, dachte er. Dem schicke ich gleich mal ne SMS: Treffen wie immer, dritte Kreuzung. Dort wollte er das Christkindchen treffen. Mit dem beriet er sich nämlich jedes Jahr über die Verteilung der Gaben.
Bald sah er von weitem, dass das Christkindchen schon da war, denn ein heller Schein war dort. Das Christkind hatte ein langes weißes Pelzkleidchen an und lachte über das ganze Gesicht. Um es herum lagen große Bündel Klee und Heu, und daran taten sich die hungrigen Hirsche und Rehe und Hasen gütlich. Sogar für die Sauen gab es etwas: Kastanien, Eicheln und Rüben.
Der Weihnachtsmann nahm seine Mütze ab und begrüßte das Christkind. "Na, Alterchen, wie geht's?" erwiderte das Christkind die Begrüßung. "Hast wohl schlechte Laune?" Damit hakte es den Alten unter und ging mit ihm den verschneiten Weg entlang. "Ja", sagte der Weihnachtsmann, "die ganze Sache macht mir so recht keinen Spaß mehr. Liegt es am Alter oder an sonst was, ich weiß nicht. Das mit den Süßigkeiten, das ist nichts mehr. Das essen sie alle auf einmal auf und dann ist ihnen schlecht. Die Geschenke kaufen sie sich schon Wochen vorher selber, weil sie nicht mehr warten können. Das ist kein richtiges Fest. Man müsste etwas Neues erfinden, etwas, das nicht zum Essen und nicht zum Spielen ist, aber wobei alt und jung singt und lacht und fröhlich wird."
Das Christkindchen nickte und machte ein nachdenkliches Gesicht; dann sagte es: "Da hast du recht, Alter, mir ist das auch schon aufgefallen. Ich habe daran auch schon gedacht, aber das ist nicht so leicht." "Das ist es ja gerade", knurrte der Weihnachtsmann, "ich bin zu alt und zu dumm dazu. Ich habe schon richtiges Kopfweh vom vielen Nachdenken, und es fällt mir doch nichts Vernünftiges ein. Wenn es so weitergeht, schläft allmählich die ganze Sache ein, und es wird ein Fest wie alle anderen, von dem die Menschen dann weiter nichts haben als Faulenzen, Essen und Trinken."
Nachdenklich gingen beide durch den weißen Winterwald, der Weihnachtsmann mit brummigem, das Christkindchen mit nachdenklichem Gesicht. Es war so still im Wald, kein Zweig rührte sich, nur wenn die Eule sich auf einen Ast setzte, fiel ein Stück Schneebehang mit halblautem Ton herab. So kamen die beiden aus dem hohen Holz heraus auf einen alten Kahlschlag, auf dem noch ein paar große und kleine Tannen standen. Das sah wunderschön aus. Der Mond schien hell und klar, alle Sterne leuchteten, der Schnee sah aus wie Silber, und die Tannen standen darin, schwarz und weiß, dass es eine Pracht war. Eine fünf Fuß hohe Tanne, die allein im Vordergrund stand, sah besonders reizend aus. Sie war regelmäßig gewachsen, hatte auf jedem Zweig einen Schneestreifen, an den Zweigspitzen kleine Eiszapfen, und glitzerte und flimmerte nur so im Mondenschein. Das Christkindchen ließ den Arm des Weihnachtsmannes los, stieß den Alten an, zeigte auf die Tanne und sagte: "Ist das nicht wunderhübsch?" "Ja", sagte der Alte, "aber was hilft mir das ?" "Hast du deinen Rucksack dabei?", fragte das Christkind, "ich habe einen Gedanken." Der Weihnachtsmann machte ein dummes Gesicht, denn er konnte es sich nicht recht vorstellen, was das Christkind wollte. Er machte sein Tragband ab, stellte seinen riesigen Sack in den Schnee. "Pack mal die elektrische Lichterkette aus", sagte das Christkind und der Weihnachtsmann kramte in seinem Sack und förderte eine zutage. "So", sagte es dann, "die befestigen wir jetzt an dem Bäumchen, und dabei kannst du helfen, aber vorsichtig, dass kein Schnee abfällt!"
Der Alte half, obgleich er nicht wusste, warum. Aber es machte ihm schließlich Spaß, und als die ganze kleine Tanne voll verkabelt war, da trat er fünf Schritte zurück, lachte und sagte; "Schau, wie niedlich das aussieht! Aber was hat das alles für'n Zweck?" "Braucht denn alles gleich einen Zweck zu haben?" lachte das Christkind. "Pass auf, das wird noch schöner. Pack mal den Akku aus und schließe die Lichterkette an!" Der Alte kramte wieder in seinem Sack herum, fand das Ding und schloss es an. Ein helles Strahlen erfasste das Bäumchen. "Was sagst nun, Alterchen?" fragte es dann. "Ist das nicht allerliebst?" "Ja", sagte der, "aber ich weiß immer noch nicht..." "Komm schon!" lachte das Christkindchen, "das ist die Lösung! Jetzt gehen wir ins Dorf!". Es sagte dem Weihnachtsmann, er solle alles wieder abbauen und einpacken.
Als sie in den Ort kamen, schlief schon alles. Beim ersten Haus machten die beiden halt. Hier stand eine kleine verschneite Zypresse im Vorgarten. "Los!", sagte das Christkind, "du weißt ja jetzt, wie es geht. Schmücke des Bäumchen mit der Lichterkette!"

Als der Mann, dem das Häuschen gehörte, am andern Morgen erwachte, aus dem Fenster schaute und den leuchtenden Baum sah, da staunte er und wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Als er aber dann draußen die kleinen und großen Fußspuren im Schnee sah, da wusste er Bescheid. Er verlegte ein elektrisches Kabel nach draußen, entfernte den Akku und schloss das Bäumchen an den eigenen Strom an. Dann weckte er Frau und Kinder. Das war eine Freude in dem kleinen Haus wie an keinem Weihnachtstag. Keines von den Kindern sah nach dem Spielzeug, den Süßigkeiten oder dem geschmückten Weihnachtsbaum im Zimmer, sie sahen nur alle nach dem Lichterbaum vorm Haus. Sie fassten sich an den Händen, tanzten um den Baum und sangen alle Weihnachtslieder, die sie wussten, und selbst das Kleinste, das noch auf dem Arm getragen wurde, krähte, was es krähen konnte. Als es heller Tag geworden war, da kamen die Freunde und Verwandten der Familie, sahen sich das Bäumchen an, freuten sich darüber und gingen gleich zurück, um das gleiche auch bei sich zuhause zu machen. Die anderen Leute, die das sahen, machten es nach, jeder befestigte irgendwo eine Lichterkette. Als es dann Abend wurde, erstrahlte das ganze Dorf Haus um Haus in einem künstlichen Glanze, dass es eine Freude war.
Von da an ist der elektrisch beleuchtete Weihnachtsbaum aus der guten Stube nach draußen in die Vorgärten gewandert, ganz Deutschland machte es nach und dann die ganze Welt. (nm)